Nach seinem abrupten Erwachen starrte Thurelh noch lange Zeit durch die schwere Platte seines kalten Steinsarges hindurch in das Nichts.
Der schwarzhaarige Vampir wusste, dass er nun schon seit sehr langer Zeit hier ruhte, doch weder hatte er eine präzisere Vorstellung davon, in welchem Jahr er sich befand, noch wie die Welt sich inzwischen entwickelt hatte.
In all den Jahrhunderten konnte alles Mögliche geschehen sein, sodass sich Thurelh auf das Schlimmste vorbereitete.
Er nahm ein gedämpftes Donnern außerhalb seiner Ruhestätte und das Pfeifen des Windes wahr.
Als seine Erinnerungen halbwegs zurückgekehrt waren, legte er die rechte Hand flach auf die Innenseite der bröckelnden Sargplatte und legte seine linke Handfläche auf den Handrücken der Rechten. Seine Hände waren rauh und faltig geworden, wie der Rest seiner Haut, was bedeutete, dass er besser schnell ein Opfer finden sollte, wenn er nicht an Blutmangel sterben und zu staub zerfallen wollte...
Darauf schloss er die Augen und führte all seine Gedanken, all seine Gefühle zu dem Mittelpunkt seiner rechten Handfläche, welche sich dort sammelten um eine kurzzeitige Symbiose miteinander einzugehen.
Mit einem physischen Stoß und dem Spreizen seiner Finger barst die massive Sargplatte, während die in vier unterschiedlich große Stücke gesprengte Platte in alle Richtungen geschleudert wurden.
Der entstandene Laut ließ ein schmerzendes Klingeln in seinen Ohren zurück und glich dem Laut, welchen er vernommen hatte, als er die Brust des Anführers der Dämonenjäger zerrissen hatte. Bilder schossen Thurelh nach dem Kopf und hinterließen einen stechenden Schmerz an der Seite seiner linken Schulter.
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Thurelh richtete sich auf, winkelte das rechte Knie an und strich sanft über die einst verwundete Stelle, während er versuchte einen Bezug zu einer bekannten, aber ungreifbaren Erinnerung herzustellen...
Ist es möglich, dass mich das selbe Geschoss getroffen hat, welches auch Elana tödlich verwundet hat...?
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Seine Erinnerungen waren noch immer am Regenerieren, doch langsam konnte er sich in die Situation auf der Lichtung damals zurückversetzen...
Voll Hass hatte er seinen Feind damals angegriffen; doch bevor Thurelhs Klinge dessen Körper auch nur erreichen konnte, ertönte dieser seltsame Knall, wobei der Vampir während seines Sprints spüren konnte, dass etwas knapp an ihm vorbeigerast war...
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Der blasse, schwarzhaarige Vampir wusste bis heute nicht, wie es der letzte des Jägerclans geschafft hatte sich vor ihnen zu verbergen, obwohl er bei seiner gemeinsamen Reise mit Elana Gerüchte davon gehört hatte, dass Priester einen Weg gefunden hätten mit Hilfe ihres Gottes eine gesegnete Aura auf eine Person zu beschwören...
Das Blut der vielen toten Menschen überlagerte den Geruch des einen Lebendigen, welcher das Schicksal seiner Partnerin besiegeln sollte.
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Vom langen Schlaf geschwächt, richtete sich Thurelh langsam auf und sah sich um.
Eine lange Reihe von Generationen seiner Familie musste inzwischen ihre letzte Ruhe hier im Mausoleum der Edhron gefunden haben. Offenbar wurde es aufgrund von Platzmangel sogar erweitert, um weitere Leichname empfangen zu können...
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Thurelh stieg über die Wände seines Sarges, nahm seine Hellebarde und das geschwungene Schwert Elanas und ging – während er die Waffen an seiner Robe befestigte – die drei Stufen hinunter Richtung Ausgang
Die weißen Wände innerhalb des Mausoleums standen im Einklang mit der Farbe der Steinsärge, wobei jedoch alle anderen Särge der Familie in Wandnischen aufgebahrt worden waren, während zwei Särge direkt in der Mitte des Raumes standen.
Einem der beiden steinernen Gräber war er soeben entstiegen, der andere enthielt die sterblichen Überreste seines Vaters. Nachdem Thurelh seinen Onkel getötet hatte, hatte er die Verantwortung der Familie seiner Mutter in die Hände gelegt, welche ihm zu Ehren ein steinernes Grabmahl neben seinem Vater errichten ließ...
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Er spürte ein seltsames Kribbeln in Armen und Beinen und wusste, dass es an der Zeit war sich zu stärken.
Eine Regenböe preschte ihm entgegen, als er das schützende Dach verließ und sich mit schützend - gehobener Hand umsah. Er befand sich auf der Erhöhung eines Berges, welcher von einer dunklen Wand umgeben schien.
Wenn ihn seine Erinnerungen nicht trübten, befand sich am nördlichen Fuße des Berges ein Tal mit einem kleinen Dorf und südlich erstreckte sich das wilde, weite Meer.
Der Sturm peitschte in gewaltigem Ausmaß durch sein Haar, als würde er mit aller Macht Thurelhs Rückkehr in diese Welt verhindern und ihn wieder in sein Grab zurückschieben wollen.
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Der erwachte Vampir trat näher an den Rand einer steilen Klippe des Berges und sah hinunter.
Was er dort sah, ließ ihn einen Moment innehalten.
Unten im Tal lag eine kleine erhellte Stadt mit wenigen kleinen, sich bewegenden Lichtpunkten und den höchsten Häusern, die er je gesehen hatte. Ihre Baustil erinnerte ihn an nichts, das er bisher kannte und doch sahen die meisten Gebilde schlichtweg plump und klobig aus.
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Bei einem solchen Wind einen Gleitflug ins Tal zu wagen wäre ein unnötiges Risiko, welches der blasse Vampir nicht bereit war einzugehen.
Als er das Mausoleum damals aufgesucht hatte, gab es noch einen Weg ins Tal, welcher ihm als Brücke in eine beinahe komplett veränderte Welt diente…
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Tage vergingen, in welchen Thurelh seine alte Stärke wiedererlangte, in den dunklen Seitengassen den Tag verbrachte und in der örtlichen Bibliothek das Wissen in Erfahrung brachte, welches er in den letzten Jahrhunderten der Geschichte verschlafen hatte…
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Der schwarzhaarige Vampir las Bücher über Geschichte, Wirtschaft, Religion, Technik und Geographie.
Es war interessant zu sehen, welche Technik die Menschen entwickelt hatten und traurig zu erfahren, wie sie sie missbraucht hatten…
Stets bei Nacht und nach der Sperrstunde durchstöberte Thurelh die langen Bücherregale nach dem verpassten Wissen für etwas mehr, als eine Woche.
Über die Insel Parisé fand er zwar keinerlei Informationen, wohl aber fand er heraus, wie er dort hinkommen konnte…
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Ein lautes Tosen beherrschte die lange, geteerte Ebene, während riesige Adler aus Stahl diese verließen und auf ihr aufsetzten.
Ein blasshäutiger, schwarzhaariger junger Mann betrat die windige Ebene und warf einen blinzelnden Blick auf die gigantischen Landebahnen.
Sein lederner Mantel flatterte hektisch in aufbrausendem Wind des scheinbar grenzenlosen Flughafenkomplexes, als der Vampir Thurelh in neuem Outfit auf dem Weg zu seinem Flugzeug inne hielt.
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Es handelte sich um ein altes Transportflugzeug, dessen nächstes Ziel der Flughafen von Olympia war.
Da Thurelh weder genug Geld hatte, noch eine andere Transfermöglichkeit gefunden hatte, war dies der einzige Weg.
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Er ging in die Knie und vollführte einen langen, flachen Sprung, welcher ihn nahe des Flugzeugbauches kniend aufkommen ließ. Der gelenkige Vampir mit seiner inzwischen wieder makellos – glatten Haut sah sich flüchtig um und rannte anschließend die wenigen Schritte zum Laderaum des gigantischen Fluggerätes.
Elegant zog er sich in dessen Inneres und ging hinter einem verrosteten Metallcontainer in Deckung.
Wenn sich die Piloten pflichtgemäß an den Flugplan hielten, sollten sie in wenigen Minuten abheben und den Flughafen von Olympia in etwa einem Tag erreicht haben….
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Es stellte sich heraus, dass sich diese wenigen Minuten noch bis auf eine halbe Stunde ausdehnen sollten, ehe sie das Flughafengelände von Southampton endlich verließen und nach etwas mehr, als einem Tag Flugdauer auf der Landebahn von Olympia aufsetzten.
Ein mächtiger Sturm hatte die Maschine während ihres Fluges kräftig durchgeschüttelt und die Reise in der langen, finsteren Lagerhalle zu einer unangenehmen Erfahrung werden lassen.
Doch es gab auch Ruhephasen, in welchen Thurelh die Zeit hatte sich der Regeneration seiner eigenen Erinnerungen zu widmen.
Bei dieser inneren Suche stieß er auf eine enorme Ansammlung gebündelter Kraft, welche im Inneren seines Geistes schlummerte und doch ungeduldig darauf wartete entfesselt zu werden.
Trotz seines langen Schlafes, war die Macht seiner Seele weiter gewachsen und offenbarten ihm nun Fähigkeiten. Er benötigte nur genug Zeit, um Zugang zu diesen Gaben zu finden – Zeit, die er auf Parisé finden würde.
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Die Sonne war soeben untergegangen und tauchte den wolkenlosen, bläulichen Himmel in ein Orange – Rotes Lichtschauspiel, welches früher oder später zur finsteren Nacht und so zu Thurelhs Tag werden würde.
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Doch der blasshäutige Jäger war bereits nach dem letzten Sonnenstrahl aus dem Schatten des Bahnhofsgebäudes getreten und mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze an dessen Infoschalter getreten.
Schon wieder so einer… Seufzte der ältere Angestellte dahinter in gelangweiltem Gedankengang, als er Thurelhs schattiges Gesicht über die matten Brillengläser hinweg in Augenschein nahm.
… und diese jugendlichen Möchtegerngrufties sind die schlimmsten… Ich glaube das ist der beste Moment, um Feierabend zu machen…
Mit diesen Gedanken legte der ältere Mann seine Hand auf den Griff des Schiebefensters, um es zu schließen, doch Thurelh kam ihm zuvor.
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Mit geringster Kraftanstrengung und seiner rechten Hand packte dieser die Kante des Fensterrahmens und hielt sie in ihrer senkrechten Bewegung auf.
Heh, was soll das? Lassen Sie los!
Doch der Vampir beugte sich nun leicht zu der kleinen Öffnung herunter und sah den Menschen mit beinahe freundlichem Blick an, während dieser mit unkontrollierten Rucken ächzend und vergeblich am Fenstergriff riss.
Verzeiht, wisst Ihr, wann der nächste Zug nach Parisé abfährt?
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… Nach Parisé? Wann war das doch gleich… um halb drei in der Früh fährt doch jedes Mal einer, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt… Aber ich wird’ den Teufel tun und es diesem Straßenpenner sagen! Der verhüllte Vampir warf einen flüchtigen Blick auf die staubige Bahnhofsuhr. Es war kurz vor halb neun…
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Noch ehe der Alte einen Ton aus seinem geöffneten Mund herauslassen konnte, lächelte Thurelh säuerlich und ließ mit einem Knappen Dankesehr. den Fensterrahmen los, um sich anschließend geschmeidigen Schrittes zu entfernen und mit der sich ausbreitenden Dunkelheit zu verschmelzen…
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Der Bahnhofsangestellte blieb mit einem rätselhaften Blick zurück und warf in verständnislosem Ärger das matte Fenster in die Verriegelung, während er eine Serie Verwünschungen in den abgeschotteten Raum ausstieß.
Dies jedoch bekam Thurelh nicht mehr mit, denn da er nun wusste, wann der Zug nach Parisé eintraf, hatte er eine Zeitspanne von etwa fünf Stunden, welche es sich nun zu vertreiben galt.
Und was, außer einer ausgiebigen Stärkung war hierbei nahe liegender?
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Wer kann dem Ruf der Nacht widerstehen, wenn sie ihre Kinder zur Jagd lockt?
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Der Minutenzeiger der verstaubten Bahnhofsuhr rastete soeben auf der 25 Minuten Marke ein, als Thruelh von seinem nächtlichen Beutezug zurückkehrte und sich gestärkt auf eine Bank des Bahnsteigs nieder ließ.
In wenigen Minuten würde der Zug nach Parisé halten und ihn zu Seinesgleichen bringen.
In seiner langen Zeit der Abwesenheit mochte sich vielleicht viel verändert haben, doch die Nacht war noch immer sein Gefährte und die Menschen seine Beute...
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Seiner Unachtsamkeit hatte er zu verdanken, dass ihn die silberne Kugel – abgefeuert aus dem Verborgenem – treffen konnte; seinen blitzschnelle Reflexen, dass ihn das Geschoss nur an der linken Schulter traf.
Ein jäher Schmerz durchströmte den Körper des bleichen Vampirs, als das Silber seine Haut durchdrang.
Es benötigte nur den Bruchteil einer Sekunde, um Thurelh klar zu machen, dass er auf dem beleuchtetem Bahnsteig eine hervorragende Zielscheibe abgab, worauf er in einer flüssigen Bewegung niederkniete und sich kräftig von der Wand abstieß.
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So überquerte er im Flug drei Gleise und kam krachend auf dem Schotter auf. Da alle Bahnsteige beleuchtet waren, musste die Waffe von den Gleisen aus abgefeuert worden sein…
Thurelhs verzerrter Blick wanderte zu einer Serie von ausrangierten Wagonen, welche ihre letzte Ruhe auf dem mittleren Gleis offenbar bereits seit Jahren gefunden hatten.
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Und dort, im Schatten zweier verstaubter Anhänger, nahm der verletzte Vampir eine Bewegung wahr. Seine Sinne wollten eben die Kontrolle über ihn übernehmen, als ihn sein Uraltes Gefühl für Taktik mitten in der Bewegung stoppen ließ.
Nein, es war zu offenkundig…
Die wahre Gefahr lauerte an einer sehr viel sicheren Stelle.
Der Wind trug ihm den Geruch süßlichen Blutes in die Nase und verriet somit das Versteck des Schützen.
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Sein Blick glitt gerade rechtzeitig nach links, um das Aufblitzen einer abgefeuerten Kugel aus ihrem Lauf sehen zu können.
Dieses Mal jedoch war Thurelh darauf vorbereitet. In einer gekonnten Bewegung, rollte sich der schlanke Vampir zur Seite, während knapp neben ihm eine silberne Kugel in den Schotter einschlug.
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Der Schuss kam aus dem Fenster des dritten Stocks eines verfallenen Bahnhofsgebäudes nahe der dritten Schiene.
Ein triumphales Grinsen umspielte die Gesichtszüge Thurelhs, als dieser lauernd in die Knie ging und machtvoll in die Höhe schnellte.
Im Flug zog er Elanas Schwert und schwang es in einem horizontalen Bogen, sodass er neben den splitternden Hausmauern auch das Gesicht des Scharfschützen traf und sich mit der Linken am Steinrahmen des Fensters festkrallte, nur um einen bestialischen Schmerz in seiner Schulter zu ernten, welcher ihn um einige Zenitmeter abrutschen ließ.
In diesem Moment hörte er das Aufjaulen eines mechanischen Warnsignals, welches die Gegend durchdrang und Thurelh nach rechts blicken ließ.
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Der Zug nach Parisé hatte den Bahnhof erreicht, und fuhr nach planmäßigem Halt nun wieder an.
Verdammt…
Thurelh ließ sich fallen und begann seinen riskanten Spurt mit einem flachen, langen Sprung Richtung Zug.
Er hatte soeben die alten Wagone hinter sich gelassen, als knapp an seinem Körper einige gezielte Schüsse vorbeizischten.
Der Schmerz in seiner Schulter trieb Thurelh nur noch weiter an, während hinter ihm weitere Schüsse erklangen.
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So kraftvoll, wie möglich stieß sich der verwundete Vampir von den staubenden Steinen ab und landete kurz darauf strauchelnd auf einem Wagon des fahrenden Zuges.
Sicheren Schrittes trat Thurelh an das Ende des Wagons und warf einen finsteren Blick zurück in die Welt, deren menschliche Kinder, die Wesen der Nacht – wie er eines war – so abgrundtief hassten…
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Auf der vergleichsweise ruhigen Fahrt nach Parisé, gelang es Thurelh schnell einen leeren Wagen zu finden, in welchem er seine Wunde so gut, wie es ihm möglich war versorgen konnte.
Unter einer schmerzhaften Prozedur gelang es dem blutenden Vampir die silberne Kugel aus der offenen Wunde zu entfernen und diese notdürftig zu verbinden.
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Nach seiner Ankunft auf der Insel konnte er sich nicht mehr erinnern, wie lange er letztlich vor sich hin vegetierte, bis ihn die Stimme aus dem Lautsprecher zurück in die Wirklichkeit rief.
Während das matte Echo noch in seinem Kopf widerhallte, betrat der Schaffner sein Abteil und blieb entsetzt stehen, stürzte dann jedoch Hilfsbereit zu dem Verletzten.
Mein Gott, was ist denn mit Ihnen geschehen? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?
Thurelh lächelte dankbar und ergriff die Schulter des Menschen.
Ja, das kannst Du…
Noch ehe der Schaffner begriff, dass er den letzten Fehler in seinem Lebens gemacht hatte, zog ihn der geschwächte Vampir zu sich heran, um den kostbaren Lebenssaft durch seine spitzen Zähne in seine Adern fließen zu lassen.
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Wenige Sekunden, bevor der Zug wieder abfuhr, hatte der erfrischte Vampir seine lange Reise mit dem Betreten des feuchten Grases der Insel beendet.
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Er war also letztendlich am Ziel seiner Reise angelangt und begieriger denn je darauf Seinesgleichen gegenüberzutreten…
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